Geheimbund Amos

Literatur

Kapitel 3

Unterwegs

Der Unterschlupf im Dornengestrüpp ist wirklich perfekt angelegt. Von außen unsichtbar und innen eng, aber richtig gemütlich und weich ausgepolstert. Rebecca kriecht hinein. Als sie liegt, fällt die Anspannung von ihr ab, und erschöpft fällt sie in einen tiefen Schlaf.

Sie träumt von einer riesigen Schafherde. Sie selbst ist ein Schaf geworden und trottet mit. Der Schäfer läuft vorweg, aber er wird immer kleiner und kleiner. Plötzlich stehen drei andere Schäfer da. Sie erkennt sie nicht, aber sie fröstelt vor Angst. Die drei rufen laut: „Wo steckt sie denn? Hast du sie nicht gesehen?“ Rebecca erwacht. Der Traum verschwimmt mit der Wirklichkeit. Sie muss lange geschlafen haben, die Sonne hat ihre kleine Höhle schon erwärmt. Aber die Stimmen, die sie gehört hat, das waren keine Traumstimmen. Jetzt sind sie wieder zu hören.

„Ja, gestern habe ich sie gesehen“ – das ist die Stimme von Nebat – „ihr wart ja hinter ihr her. Sie ist den kleinen Weg hier entlang gelaufen.“

„Das wissen wir auch“ – diese Stimme klingt hart und schneidend – „aber dann war sie plötzlich verschwunden. Du läufst doch hier in der Gegend rum. Hast du sie dann nicht mehr gesehen?“

„Das habe ich schon. Sie war später wieder da. Aber was geht mich das an? Habe ich mit ihr etwas zu schaffen?“

„Hör zu, Alter, mach kein Spielchen mit uns. Sag uns, wo sie hingelaufen ist.“ „Wohin? Ich habe nicht gesehen, wie sie weggelaufen ist. Ich kümmere mich um meine Schafe und nicht um kleine Mädchen wie ihr.“

„Lass deine Witze, sonst nehmen wir dir ein paar von deinen Schafen weg. Erkläre das dann mal dem Besitzer.“

„Das ist derselbe wie euer Herr, so vermute ich. Die Schafe gehören Daniel. Soll ich ihm sagen, dass seine eigenen Häscher seine Tiere klauen?“

„Halts Maul! Du sollst nur sagen, wo diese kleine Kröte hin ist.“ 

„Wie gesagt, ich habe nicht gesehen, wie sie weggelaufen ist. Aber denkt doch mal nach! Die Nacht ist dunkel, und wenn jemand hinter mir her wäre, dann ginge ich in der Nacht irgendwohin, wo niemand mich vermutet. Am besten in entgegengesetzte Richtung wie bisher. Jedenfalls hätte ich es so gemacht, wenn man hinter mir her wäre.“

„Ich sag ja, hier finden wir sie nicht“ – das war wieder eine andere Stimme – „wir sollten zurück und dabei die Augen aufhalten. Sicherlich ist sie nach Samaria.“ „Wahrscheinlich hast du recht. Da ist uns die kleine Kröte doch entwischt. Aber irgendwann läuft sie uns doch wieder über den Weg.“

Schritte entfernen sich. Dann hört Rebecca wieder Nebats Stimme: „Rebecca? Schläfst du noch?“
„Nein – ich habe alles mitgehört.“
„Bleib noch drinnen in deinem Versteck. Vielleicht beobachten uns die drei noch. Wie gut, dass du so lange geschlafen hast.“

Auch die Schritte von Nebat entfernen sich. Rebecca bleibt allein zurück. Sie hat das Bedürfnis, aufzustehen, sich zu recken und zu strecken. Und sie muss sich dringend hinhocken zum Pinkeln. Doch sie traut sich nicht heraus.

Wie hat sich ihr Leben doch verändert, seit vor einem Jahr der Vater die Arbeit verlor. Vorher hat es sie nicht sonderlich interessiert, dass die Bettler auf der Straße immer mehr wurden. Nun war sie selber eine Bettlerin, angewiesen auf diesen fremden Mann, den Nebat. Dramatisch hat sich ihre Situation verschlimmert, seit sie gestern fliehen musste, auch wenn Nebat sie erst einmal gerettet hat. Aber das war nur für den Augenblick, wie sollte es mit ihr weitergehen? Eine tiefe Traurigkeit durchflutet Rebecca. „Von allen verlassen liege ich alleine hier“, murmelt sie vor sich hin, „wie mag es nur dem Vater gehen? Und wie soll es mit mir weitergehen?“

Sie hört Nebat zurückkommen. „Komm heraus!“ sagt er, „sie sind tatsächlich zurückgegangen. Und wir müssen los. Die Tiere sind schon ganz unruhig.“  „Losgehen? Wohin?“ Rebecca krabbelt aus dem Versteck und läuft hinter einen Busch. Doch dann setzt sie sich in den Schatten, mag sich nicht recken und strecken und bleibt einfach sitzen. „Es hat doch keinen Sinn, dass ich mich weiter verstecke. Wo soll ich hin? Der Ewige hat uns verlassen, unser ganzes Volk versinkt im Elend. Wer hält denn noch zu mir?“

„Ich!“ sagt Nebat und lächelt. Dann wird er schnell ernst: „Komm, wir müssen wirklich los, die Tiere können nicht länger warten. Sie sollen nicht auch noch leiden unter unseren Schwierigkeiten. Trink einen Schluck und dann komm mit. Ich öffne jetzt den Pferch.“ Und ohne sich weiter um Rebecca zu kümmern, schiebt er einen Teil des Dornengestrüpp beiseite, pfeift einmal laut auf den Fingern und geht los. Die ganze Schafherde drängt dem Ausgang zu, es gibt ein Gedränge und Gemecker und alle laufen Nebat hinterher. Einen Augenblick lang steht Rebecca noch unschlüssig. Soll sie auch hinterherlaufen wie ein Schaf? Doch wo soll sie sonst hin? „Warte, ich komme ja!“ ruft sie noch. Dann rennt sie los.

 Schweigend gehen sie lange Zeit nebeneinander her. Nebat bleibt öfters stehen, schaut sich um, ob die Schafe alle folgen. Sorgsam wählt er den Weg und vermeidet steile Stellen. Ab und zu ruft er in einem singenden Ton „Kommt, meine Schafe, kommt, kommt …“ Das erscheint Rebecca anfangs etwas albern, aber sie merkt, wie die Schafe die Stimme erkennen und ihr folgen. Oftmals bleiben sie auch einfach stehen, die Tiere suchen etwas von dem spärlichen Grün zwischen Steinen und Disteln. Dann ertönt wieder ein Pfiff, und sie ziehen weiter. Bei den Schafen sind viele kleine Lämmer, die ihren Müttern hinterher springen.

Es tut Rebecca gut, so langsam umher zu ziehen, nicht mehr rennen zu müssen und sich ganz der Führung von Nebat anzuvertrauen. Tatsächlich ertappt sie sich bei dem Wunsch, selber ein Schaf zu sein wie im Traum, nicht mehr nachdenken zu müssen, nur Futter zu suchen und keinen Gedanken an Gefahren und Sklaverei aufkommen zu lassen. Langsam werden die quälenden Fragen in ihrem Kopf kleiner. 

In einem weiten Talkessel machen sie einen längeren Halt. Eine Menge gutes Gras wächst dort, mit weißen Tupfen von Gänseblümchen. Nebat öffnet seinen Beutel und holt ein kleines Stück Käse heraus. „Iß!“ sagt er, „Käse habe ich genug. Viele Muttertiere haben ihre Lämmer geworfen, und sie geben immer noch Milch. Das gibt guten Käse. Nur das Brot ist knapp.“

Rebecca isst. Ein friedliches Bild steht dabei vor ihren Augen. Die Schafe grasen im Talkessel, andauernd rufen sie ihr „Mäh“ – das ist ein Zeichen, das sie sich wohlfühlen, sagt Nebat – und sie sieht die grüne Landschaft mit den Blumen. Welch ein Kontrast zu den Erlebnissen gestern.

„Nebat“, sagt Rebecca, „ich bin so durcheinander. Hier ist alles so friedlich, aber in mir ist noch so viel Unruhe von gestern. Wenn du nicht gewesen wärst, hätten sie mich sicher gefangen, spätestens heute morgen. Wieso hast du eigentlich ein Versteck in deinem Pferch, du wusstest doch gar nicht, dass ich komme?“

„Ja und nein“ entgegnet Nebat, „ich wusste natürlich nichts von dir. Aber ich will es dir verraten. Glaube nicht, dass du die erste bist, die vor den drei Häschern des Daniel geflohen ist. Es sind schon manchmal Kinder gekommen – wie du – die dringend ein Versteck brauchten. Und es sind nicht nur die Häscher des Daniel, es gibt auch andere, die Sklavenkinder suchen. Wenn ich dann helfen kann, dann tue ich es. Auch wenn es nicht ganz ungefährlich ist. Wenn die drei das herausbekommen … Also schweige davon, was immer dir auch begegnet.“ Rebecca schaut zu den Schafen. So ruhig scheint alles bei Nebat zu sein, und doch hat er die Gefahr genau im Blick.

„Es ist nicht alles so friedlich, wie es auf den ersten Blick erscheint“, sagt Nebat, als ob er ihre Gedanken erkannt hätte, „aber es ist auch nicht alles so aussichtslos, wie es dir im Augenblick erscheint.“

Mit einem Schlag ist die Traurigkeit bei Rebecca wieder da. „Doch, Nebat, es ist aussichtslos. Ich kann ja nicht immer bei dir bleiben. Irgendwann muss ich weiter. Wo soll ich hin? Wer gibt mir Brot? Ich bin 8 Jahre alt. Was kann ich tun?“ Sie macht eine Pause. „Nebat, der Ewige hat uns verlassen. Er treibt uns alle ins Elend und lässt Daniel in allem Luxus leben. Was sollen wir tun gegen seinen Entschluss? Ohnmächtig sind wir, denn er ist auf der Seite Daniels, und er …“

„Schweig!“ schreit Nebat mit einer Lautstärke, die sie noch nie bei ihm gehört hat, „sprich diesen Unsinn nicht aus. Wenn du meinst, dass Adonai, der Herr, gepriesen sei sein Name, auf Daniels Seite steht, dann hast du in der Tat verloren. Aber es ist nicht so. Niemals. Ich weiß es!“

„Wie kannst du es wissen?“

„Vom Propheten des Herrn. Von dem, der in seinem Auftrag spricht. Von Amos. Hast du noch nie von ihm gehört?“

Rebecca schüttelt den Kopf.

„Er zieht umher in Samaria und der Gegend dort“, erklärt Nebat, „und wo die Menschen zusammenkommen – bei den Gerichtsverhandlungen, bei den Opferfesten, auf den Markttagen – da taucht er auf und fängt an zu reden. Die einen horchen auf, sie hören seine Worte wie eine Befreiung, die anderen ärgern sich und würden ihn am liebsten totschlagen.“

„Und was sagt er, das die Leute aufhorchen lässt?“

„Neulich hat er auf einem Markt am Brunnen gestanden und plötzlich angefangen, zu reden:
Wehe euch, die ihr die Armen unterdrückt und die Elenden im Lande zugrunde richtet. Wehe euch, die ihr sprecht: Wann können wir endlich Getreide verkaufen? Wenn Markttag ist und wir vorher die Waage gefälscht haben und den Preis in die Höhe treiben. Wehe euch, die ihr sprecht: Wir wollen den Armen in unsere Gewalt bringen und Streu verkaufen für Korn. Um solcher Freveltaten willen wird das Land erschüttert! Adonai, der Herr, hat es geschworen: Niemals will ich diese Untaten vergessen!“

„Das stimmt!“ ruft Rebecca, „wenn sie bei uns Getreide verkauft haben, dann hatte ich auch immer den Verdacht, dass die Gewichte nicht stimmen. Aber wer hat schon eine eigene Waage, um nachher zu kontrollieren?“

„Es ist nicht Daniel alleine, der Elend über das Volk bringt. Wer kann, der macht mit. Auch die Kaufleute verdienen gut. Neulich haben sie dem Daniel ein Bett mit Elfenbeinschnitzereien verkauft. Was meinst du, was sie dabei verdient haben! Aber wenn sie alle so weitermachen, wird das Land erschüttert. So sagt es Amos.“

Rebecca schaut Nebat an: „Der hat gut reden, der Amos. Wenn diese Worte wirklich im Auftrag Adonais gesprochen wären, dann hätte sich schon etwas ändern müssen. Dann wäre wieder Gerechtigkeit eingezogen in Israel. Aber so? Warum haben die Heuschrecken nicht die Felder Daniels kahlgefressen, wo er doch das ganze Volk ins Elend treibt?“

Einen Moment sitzen sie schweigend nebeneinander. Dann sagt Nebat unvermittelt: „Pass auf, ich kenne noch etwas, was Amos sagte:

Mich verdrießt das eitle Leben in Israel – so spricht Adonai, der Herr – ich hasse diese Prunkpaläste in den Städten,  wenn daneben die Menschen hungern. Ich will die Paläste in Trümmer schlagen lassen und die kleineren Häuser in Stücke. Die Reichen werden gefangen,  fortgeführt von fremden Völkern, und das Schlemmen der Übermütigen soll aufhören!“

 „Ach, Nebat, das sind schöne Worte“, sagt Rebecca, „Aber ich sitze hier, fern von zuhause, und kann nicht glauben, dass der Ewige so spricht. Wenn Adonai so redet, soll er doch alles in Trümmer schlagen. Wir haben dabei nichts zu verlieren. „

„Fälle dein Urteil nicht zu schnell! Ich will dir später mehr von Amos erzählen. Jetzt müssen wir aufbrechen. Die Schafe haben gefressen und brauchen etwas zu trinken. Wenn wir weiter nach Süden gehen, kommt eine kleine Quelle, die führt noch Wasser.“

„Woher weiß Nebat das alles?“ denkt Rebecca bei sich. „Er ist doch tagelang alleine mit seinen Schafen. Er scheint noch ein Geheimnis zu haben.“

Nebat steht auf. Ein Pfiff ertönt, und die Schafherde setzt sich in Bewegung. Widerwillig steht auch Rebecca auf. Nur ungern verlässt sie diesen friedlichen Platz. Auch hätte sie gerne noch mehr gewusst von diesem Amos, diesem merkwürdigen Propheten mit seinen unglaublichen Sätzen. Auch wenn sie seine Behauptungen nicht einfach so glauben konnte, findet sie es schon erstaunlich, dass er so mutig den Mund aufmacht gegen die Reichen. Aber Nebat ist schon mit zügigen Schritten unterwegs, da muss Rebecca hinterher. Eine ganze Weile ziehen sie weiter. Manchmal hört sie Nebats Gesang

„Kommt, meine Schafe, kommt, kommt…“ Die Landschaft wird karger, Wege gibt es keine mehr, und Felsen und Dornen bestimmen das Bild. Die Sonne steht hoch am Himmel und brennt erbarmungslos nieder. Rebecca hat Durst, die Zunge klebt ihr am Gaumen. Sie spürt die Müdigkeit in sich, die Anstrengung des gestrigen Tages. Sie möchte innehalten, aber sie muss weiter und weiter gehen.

Dann ändert sich wieder das Bild. Bäume wachsen hier, hohe Bäume voller Laub, die ihren Schatten werfen. Gras beginnt zu wachsen, mit Blumen durchsetzt, ein ganzes Meer aus wundervollen violetten Blüten. Doch die Schafe bleiben nicht stehen. Wie von einer unsichtbaren Hand gezogen laufen sie weiter. Dann sieht auch Rebecca die Quelle. In einem Steinoval glitzert das klare Wasser, schlängelt sich dann als kleiner Bach durch die Wiese. Die Schafe sind am Ufer stehen geblieben und trinken gierig. Und auch Rebecca kauert sich am Steinoval hin, taucht den Kopf in das kalte Wasser – welche Wohltat – und trinkt. Köstlich! Klares, frisches Wasser, noch wohltuender als zuhause das Wasser aus dem Brunnen – und es fließt und fließt und hört nicht auf, immer wieder neu, erfrischend und belebend.

„Wasser!“ ruft Rebecca, „eine Quelle! Wie schön!“ Wie gerne hat sie früher als Kind mit Wasser gespielt! Und als hätte dieses Wasser allen Ärger weggespült, alle Gefahr und alle Fragen, so beginnt Rebecca zu hüpfen und zu tanzen und zu singen, wie ein kleines Kind singt und tanzt sie:
„Wie köstlich ist deine Güte. Alle werden satt von den Gütern deines Hauses, du tränkst sie mit Wonne, bei dir ist die Quelle des Lebens, du Ewiger.“
und sie bückt sich noch einmal, greift mit den Händen in das Wasser und wirft es in die Luft, dass sich tausend Tropfen bilden und wieder zur Erde fallen und die Sonne bricht sich darin und lässt die Tropfen in funkelnden Farben erscheinen.

Nebat sitzt etwas abseits und schaut zu, wie Rebecca mit dem Wasser spielt. Er summt leise ihre Lieder mit, aber oft kennt er die Melodie auch nicht und lauscht.

Dann kommt Rebecca zu ihm. „Nebat“, sagt sie, „nie habe ich gewusst, was für eine wunderbare Quelle hier ist. Und das ganze Jahr sprudelt hier das Wasser.“

„Nicht das ganze Jahr“, widerspricht Nebat, „nur jetzt im Frühling, wo die Regenzeit noch nicht allzu lange vorbei ist. Im ein paar Wochen versiegt sie, und Gras und Blumen vertrocknen. Dann sieht es hier ganz anders aus. Nur die Bäume sind dann noch grün.“

Rebecca schüttelt den Kopf: Nein, das mag sie sich nicht vorstellen, dass es hier karg und vertrocknet sein kann.  „Das Schöne kannst du nicht festhalten“, sagt Nebat, der ihren Widerwillen bemerkt, „es kommt und geht. Aber es kommt auch wieder. Das Schöne geht nicht auf immer verloren.“

Wieder schüttelt Rebecca den Kopf. Nein, sie hat jetzt keine Lust, sich vorzustellen, wie es hier bei Trockenheit aussieht. Sie möchte an nichts Trauriges denken. Sie springt auf und läuft wieder zum Wasser. Noch einmal möchte sie alles abspülen, was an dunklen Gedanken sein könnte. Sie greift in das Wasser, sie spritzt sich nass. Sie schlüpft aus den Sandalen und badet ihre Füße im Wasser.

Die Schafe beginnen sich auf der Wiese zu verstreuen, sie fressen Gras oder liegen im Schatten der Bäume.

 Kaum zu sehen sind die beiden Schakale, die lautlos heran geschlichen sind. Im Schatten einiger Sträucher haben sie sich niedergelassen, beobachten Menschen und Tiere. Dann springen sie auf, mit ein paar Sätzen sind sie bei den Schafen, die erschrocken hochfahren und versuchen, zu fliehen. Doch die Raubtiere sind schneller. Schon hat der erste Schakal ein Schaf erreicht. Da gellt ein Schrei durch die Luft. Nebat hat ihn ausgestoßen. Mit unglaublicher Geschwindigkeit läuft er zu dem Raubtier, schlägt mit seinem Hirtenstock auf ihn ein und schreit dazu aus Leibeskräften.

Erschrocken ist auch Rebecca aufgesprungen, starrt auf den zweiten Schakal, der eines der auseinanderstiebenden Schafe am Hinterlauf gepackt hat, und springt mit einem Satz dazu. Sie hat keinen Stock, mit bloßen Fäusten schlägt sie auf das Raubtier ein und tritt mit ihren nackten Füßen – die Sandalen liegen noch bei der Quelle – und in ihrer unglaublichen Wut scheinen sich ihre Kräfte zu verdoppeln. Als wären es die drei Häscher des Daniel, so prügelt sie auf das Tier ein, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, in die sie sich selber bringt.

Schon knurrt der Schakal, und in einer blitzschnellen Bewegung schnappt er nach ihrer Hand. Doch Rebeccas Hand trifft genau die Schnauze des Tieres, trifft sie mit voller Wucht, und aufjaulend zieht sich das Tier ein Stück zurück.

Das Schaf ist frei, aber aus der Wunde quillt Blut. Da steht plötzlich Nebat neben ihr, noch immer laut schreiend will er den Schakal mit seinem Stock angreifen. Doch der dreht sich um und verschwindet lautlos zwischen den Bäumen.

 Schwer atmend stützt sich Nebat auf seinen Stock, und auch Rebecca werden die Knie weich und sie muss sich erst einmal hinhocken. Ein Pfiff von Nebat ertönt, und von allen Seiten kommen die Schafe wieder angelaufen. Der Schreck hat sie auseinandergetrieben, jetzt drängen sie alle zurück zu ihrem Herrn. Der geht zwischen ihnen hin und her, berührt sie, spricht leise Worte. Er zählt die Tiere und nickt. Schließlich geht er zu dem verletzten Tier, das am Hinterbein blutet. Stumm liegt es am Boden, klagt nicht, schaut seinen Herrn nur an. Der packt das Bein, fühlt und bewegt es und holt dann aus den Tiefen seiner Tasche etwas, das wie ein getrocknetes Blatt aussieht. Er legt es auf die Wunde und drückt es fest, bis die Blutung aufhört. Rebecca hat sich neben ihn gehockt. „Was ist mit dem Schaf?“ fragt sie. „Wir haben Glück“, antwortet Nebat, „es ist nur eine Fleischwunde, der Knochen ist heilgeblieben. Mit diesem Kraut hier“ – er deutet auf das Blatt auf der Wunde – „wird es bald wieder gesund werden.“ Dann schaut er Rebecca an: „Tapferes Mädchen! Mit bloßen Fäusten bist du auf das Raubtier losgegangen. Ohne dein Eingreifen wäre das Schaf verloren gewesen. Danke.“

Rebecca nickt nur stumm. Sie hatte gar nicht überlegt, ob es richtig ist, auf den Schakal loszugehen. Sie erinnert sich vor allem an ihre Wut, ihre übergroße Wut auf diese Raubtiere, die eingefallen waren in ihr Bild von der paradiesischen Quelle und die ihr Bild von Frieden und Sorglosigkeit zerstört hatten. Und die Angst und Wut ihrer Flucht gestern hatten ihr wohl auch noch einmal zusätzliche Kraft gegeben. „Wo ist der andere Schakal?“ fragt sie Nebat.

„Tot!“ ist die kurze Antwort, und mit einer flüchtigen Armbewegung zeigt Nebat die Richtung. Rebecca läuft ein paar Schritte und dann sieht sie schon das tote Tier in einer Blutlache. Der Anblick entsetzt und fasziniert sie gleichermaßen. Er passt so gar nicht in diese schöne Welt an der Quelle. Aber sie haben sie auch verteidigt gegen die Raubtiere. Sie haben gekämpft und gesiegt – und sie hat mitgekämpft. Tapferes Mädchen! 

Die Worte von Nebat tun ihr gut.