Mittelalterliche Kirchen (nicht nur romanische!) waren keine hellen Orte, sie waren bunte Orte. Durch Glasfenster und Wandmalerei war das Raumgefühl wohl eher mit einem Kinosaal oder einer Spezialbuchhandlung für Comics und Mangas zu vergleichen, eher ein höhlenartiges Gefühl. Die Wandmalereien sind zum großen Teil verschwunden, und damit ein wesentlicher Teil der Theologiegeschichte gleich mit. Denn diese Maler waren nicht nur Illustratoren, sondern hatten auch etwas zu sagen. Zumindest einige erhaltene Reste zeigen, dass man von einer Theologie der Bilder sprechen darf, eine Theologie, die man sich ähnlich wie eine narrative Theologie vorstellen muss, in der Geschichten mit Geschichten verknüpft werden und in der durch die Art der Nacherzählung der Geschichten deutlich erkennbare thematische Akzente gesetzt wurden. Insofern kann man von dieser Bildertheologie auch in Bezug auf unser heutiges Bibellesen durchaus noch lernen, zumindestens einige Denkanstöße mitnehmen. Ein Beispiel ist die Heilig Geist Spitalkirche in Sterzing (erbaut 1399–1402). Sie war Teil eines alten Spitals und Hospizes, sie war Treffpunkt auch aller Pilger auf ihrem Weg nach Italien und zurück (und aller Italiener auf ihrem Weg nach Norden), denn Sterzing ist die erste Stadt hinter dem Brennerpass im heutigen Südtirol. Die Wände und Gewölbe sind vollständig mit Fresken geschmückt (vermutlich durch Hans von Bruneck, ca 1415). Von diesem Maler weiß man wenig, vor allem weiß man anscheinend wenig über seine Theologie. Im folgenden zwei Bilder, die freundlicherweise von Reinhard Glassl (www.fotocommunity.de/fotograf/rinaldog/2067647) zur Verfügung gestellt wurden. Das Bild vom jüngsten Gericht überzieht die ganze rückwärtige Wand dieser Kirche, also, wenn Ostung gegeben ist, die innere Westwand. Es ist die Wand, in der ursprünglich Aus- wie Eingang gelegen haben, immer wenn man die Kirche verläßt, geht man durch dieses Bild. Man sieht dabei auf der rechten Seite die verdammten im Rachen der Unterwelt und links die Toten aus ihren Gräbern hervorkommen. Es ist nicht zu übersehen, die Verdammten sind vor allem die Etablierten in der kirchlichen Rangordnung. Man erkennt eine Mitra, eine päpstliche Tiara und auch eine Mönchstonsur. Nichts von diesen Insignien hohen Rangs ist bei denjenigen zu sehen, die aus ihren Gräbern auferstehen.
Ein zweites bemerkenswerte Bild, oder besser eine zweite Bildkomposition, schließt sich an der hinteren Südwand an. Sie komponiert in ziemlich singulärer Weise die Szene vom Kindermord zu Bethlehem mit der Anbetung und Verehrung des Kindes durch die Drei Heiligen Könige. Man sieht ganz oben König und Königin auf einem Balkon stehen. Sie schauen bei der Ermordung der Kinder zu. In der unteren Bildhälfte sieht man die drei Weisen aus dem Morgenland als drei Könige mit militärischen Gefolge. Der erste König, der Krippe und Kind erreicht, ist vom Pferd gestiegen, hat dem Diener die Krone gegeben, beugt das Knie vor dem Kind und küßt in einer berührenden zärtlichen Geste den Fuss des Kindes.
„Wie unterschiedlich Könige reagieren“, hat der Fotograf sein Bild überschrieben. In der Tat, es ist wie beim Bild vom jüngsten Gericht eine harte Kritik, diesmal an weltlicher Herrschaft und zugleich eine Utopie wahrer königlicher Größe. Der Kuss des kleinen Kinderfusses durch den großen König zeigt in unüberbietbarer Eindringlichkeit: „Das Gegenteil von Gewalt ist nicht Frieden, sondern die Kraft der Güte und der Wahrheit, sowie Zärtlichkeit.“ (Hansuli Gerber)
Dieser Hans von Bruneck war ein früher, radikaler Befreiungstheologe, der etwas von Zärtlichkeit und Gewaltfreiheit und von der Option der Armen verstanden haben muss. Natürlich fehlt in dieser Kirche auch nicht ein Bild jener Szene bei der Verhaftung Jesu, als Petrus von Jesus aufgefordert wird, sein Schwert in die Scheide zu stecken (nur ein gutes Foto fehlt noch….).
Wie eigenartig: keine hundert Jahre später war ganz Tirol ein Zentrum der frühen gewaltfreien Täuferbewegung: „Mit Gewalt vorgehen und herrschen ist keinem Christen erlaubt, der sich seines Herrn rühmen will“ (Hans Denck). Fast alle Tiroler Täufer und Täuferinnen werden einmal in dieser Kirche und unter diesen Bildern gesessen, gebetet und meditiert haben, Katharina Hutter, die Frau Jakob Hutters kam vermutlich sogar aus der Gegend um Sterzing.