Gedanken zu Paraschat Wajetzei
Rabbiner Michael Marmur
13.12.2024
In Genesis, Kapitel 31, wirft Laban, der Aramäer, seinem Schwiegersohn Jakob in einer Rede voller Pathos und Zorn dreifachen Diebstahl vor:
„Laban sagte zu Jakob: ‚Was hast du getan, dass du mein Herz gestohlen und meine Töchter wie Kriegsgefangene verschleppt hast? Warum bist du heimlich geflohen und hast mich bestohlen, ohne es mir zu sagen? Ich hätte dich mit Freude und mit Gesang, mit Pauken und Leiern weggeschickt. Aber warum habt ihr mir meine Götter gestohlen, wo ihr doch so gerne in das Haus eures Vaters zurückkehren wolltet?“ (1. Mose 31:27-30)
Der erste Diebstahl, der „Diebstahl des Herzens“, bezieht sich auf den Schmerz, der durch Verlust und Entfremdung innerhalb der Familie entsteht. Der Verlust eines geliebten Menschen fühlt sich an wie der Diebstahl des eigenen Herzens. Raschi interpretiert den zweiten Diebstahl als „Diebstahl des Geistes“, d. h. als Täuschung und Betrug. Der dritte Diebstahl bezieht sich auf den religiösen Bereich: Laban beschuldigt Jakob, seine Teraphim (Hausgötzen) physisch gestohlen zu haben und, metaphorisch gesprochen, seinen Glauben und seine Lebensweise zu „stehlen“.
Laban, der Aramäer, ist nicht der Einzige, der unter diesem dreifachen Diebstahl leidet. Unsere heutige Zeit kann auch als eine Zeit der Diebstähle beschrieben werden – Diebstahl des Herzens, Diebstahl des Geistes und Diebstahl des Göttlichen. Wir leben in der Zeit des Diebstahls.
Erst vor wenigen Tagen hat unser Freund Jesse Burke seinen Sohn, Staff Sergeant Zamir Burke, verloren, der in Gaza gefallen ist. Denjenigen, deren Angehörige in Kriegsgefangenschaft sind oder im Krieg getötet wurden, wurde das Herz gestohlen und zerbrochen. In Israel, im Gazastreifen und im Libanon wurden so viele Leben ausgelöscht und so viele Herzen gestohlen. Der See des Kummers ist über die Ufer getreten und er steigt weiter.
Auch der Diebstahl des Geistes ist weit verbreitet. In jüngster Zeit wurden wir Zeuge von Versuchen, die Medien zu untergraben, politische Parteien zu disqualifizieren und Stimmen im Bildungssystem zum Schweigen zu bringen, die als gefährlich erachtete Meinungen äußern. In normalen Zeiten sollten wir eine differenzierte Diskussion über die Grenzen der Meinungsfreiheit führen, aber in diesen Krisentagen ist eines klar: Es wird versucht, unseren Verstand zu rauben, und das dürfen wir nicht hinnehmen.
Die dritte Art des Diebstahls ist ebenfalls im Gange. Es gibt Bestrebungen, den Heiligen als Geisel zu nehmen, Tradition und Religion zu kapern. Es gibt diejenigen, die davon ausgehen, dass das Judentum eine messianisch-rassistisch-militante Haltung billigt und sogar fördert. In meinen Augen kommt eine solche Annahme einem Diebstahl gleich. Sie stehlen unseren Gott.
Wie sollten wir in dieser Zeit des Diebstahls und des Schmerzes reagieren? Welches Heilmittel gibt es für das gestohlene Herz, welchen Lichtstrahl für den gestohlenen Verstand, welche Reparatur für das gestohlene Göttliche? Ich wünschte, ich hätte die Antworten.
Ich weiß jedoch, dass in den kommenden Tagen viele Freunde und Unterstützer von Rabbis for Human Rights auf den Diebstahl mit einem Akt des Gebens reagieren werden. Unsere jährliche Crowdfunding-Kampagne wird die regionale oder globale Krise nicht lösen. Sie wird zerbrochene Herzen und verwirrte Gemüter nicht heilen. Doch die Teilnahme an der Kampagne wird unserer Organisation helfen, ihre Stimme zu erheben und zu verstärken.
Rabbis for Human Rights wird auch weiterhin protestieren, Präsenz zeigen, Hilfe leisten, lehren und zeigen, dass Herz, Verstand und Glaube fortbestehen. Jeder, der kann, ist eingeladen, sich in den kommen-den Tagen an der Kampagne zu beteiligen, und sei es nur, um zu spüren, dass es bei allem Raub und Verlust immer noch die Möglichkeit des Gebens und der Hoffnung gibt.
Rabbiner Michael Marmur lehrt jüdische Theologie am Hebrew Union College in Jerusalem. Er ist ehemaliger Vorsitzender von Rabbis for Human Rights und gehört derzeit dem Vorstand an. Sein demnächst erscheinen-des Buch, Foundations of Jewish Theology, wird 2025 veröffentlicht. (Übersetzung: Rabbi Ma’ayan Turner + deep.l)
