Ein Zwischenruf in Psalm 11,5

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oder: wie man hebräische Textgeschichte aus deutschen Übersetzungen lernen kann

In der „Einheitsübersetzung“ (EÜ) von 2016 lautet der fünfte Vers von Psalm 11 „Der HERR prüft Gerechte und Frevler; wer Gewalttat[1] liebt, den hasst seine Seele.“ Ein Vers, der formal nach dem Prinzip des Parallelismus membrorum gebaut scheint, denn beide Satzglieder sind fast gleich lang; ein Vers allerdings, der auf der inhaltlichen Ebene den aufmerksamen Leser, die Leserin durchaus irritieren kann. So vertraut die Aussage „der HERR prüft den Gerechten“ ist, so ungewöhnlich erscheint die Erweiterung „und den Frevler“. Den Frevler wie den Gerechten prüft der HERR in gleicher Weise? Was für eine seltsame und singuläre Aussage, zumal im zweiten Glied des Satzes vom göttlichen Hass auf den Gewaltliebhaber gesprochen wird. Ist der Frevler also jemand anderes als der Gewaltliebhaber?

Wie löst man solche Irritationen? [2]

Muss man hebräisch können, um eine deutsche Bibelübersetzung richtig zu verstehen? Nicht unbedingt, denn gerade in bzw. an Psalm 11,5 zeigt sich, welche Möglichkeiten ein Übersetzungsvergleich bieten kann.

Zwei Übersetzungstraditionen

Zunächst eine Überraschung, die EÜ von 2016 übersetzt weitgehend identisch wie die Revision der „Zürcher Bibel“ von 2007[3]: „Der HERR prüft den Gerechten und den Frevler, und seine Seele hasst den, der Gewalt liebt.“ Wer weiter vergleicht, entdeckt aber bald eine zweite Übersetzungstradition. Die für ihre Nähe zum hebräischen Text bekannte „Elberfelder Übersetzung“ dolmetscht folgendermaßen: „Der HERR prüft den Gerechten; aber den Gottlosen und den, der Gewalttat liebt, hasst seine Seele.“ Hier haben die Übersetzer offensichtlich verstanden, dass inhaltlich der Frevler kaum auf einer Ebene mit dem Gerechten stehen kann und haben den Frevler dem Gewaltliebhaber zugeordnet. Damit ist inhaltlich eine klare Gegenüberstellung erreicht, hier der Gerechte, dort der Frevler und Gewaltliebhaber. Formal aber sieht es jetzt etwas weniger schön aus, der erste Versteil ist wesentlich kürzer als der zweite. Die „Lutherbibel“ in der Revision von 2017 hat wohl darum, um diesen Mangel abzuhelfen, die „Seele“ unter den Tisch fallen lassen: „Der HERR prüft den Gerechten, aber den Frevler hasst er und den, der Gewalttat liebt.“[4] Man ahnt an diesem Punkt übrigens, was zur Übersetzung der EÜ und vorher bereits der Zürcher Bibel geführt haben kann. Denn wer die Frevler noch zu den Gerechten „zählt“, der bewahrt formal einigermaßen das Gleichgewicht beider Versteile!

Gleiche Länge beider Versteile ist nicht nur für poetische Puristen wichtig, sondern auch für Menschen, die Psalmen gerne singen. Daher haben die benediktinischen Spezialisten bei ihrer neuen Übersetzung des Psalters[5] um nicht auch den Frevler den Gerechten zuordnen zu müssen, aus einem missratenen Zweizeiler einen singbaren Dreizeiler gebaut (allerdings auch unter „Seelenverlust“): „Der HERR prüft den Gerechten/doch den Frevler haßt er*/und jene, die Gewalttat lieben.“ Damit sind die Benediktiner interessanterweise nahe bei Luther, allerdings bei „Luther 1545“[6]: „Der HERR prüft den Gerechten/seine Seele haßt den Gottlosen/und die gerne freveln[7].

Was ist los im hebräischen Text?

Es stellt sich natürlich am Ende doch die Frage, was ist da eigentlich los im hebräischen Text, wenn Übersetzer und Übersetzerinnen so unterschiedlich dolmetschen? Nun, auch dazu ist keine tiefere Kenntnis von syntaktischen Regeln hebräischer Poetik nötig, eine Erinnerung an die Eigenart biblischer Texte, dass sie gelegentlich eine Überarbeitung und Kommentierung erfahren haben, reicht aus. Die „Elberfelder Übersetzung“ des zweiten Versteils „aber den Gottlosen und den, der Gewalttat liebt, hasst seine Seele“(die sich auch bei Buber und Rosenzweig findet: „den Frevler und den Unbill-Liebenden haßt seine Seele“) zeigt eine mögliche Lösung auch im deutschen Text deutlich genug an:

aber den Gottlosen und den, der Gewalttat liebt, hasst seine Seele“

In einer älteren Fassung lautete Psalm 11,5 vermutlich nur „Der HERR prüft Gerechte / den Frevler hasst seine Seele.“ Ein Vers nun wirklich in idealer Weise nach dem Prinzip des Parallelismus membrorum gebaut, beide Satzglieder sind im hebräischen Text gleich lang

Die Präzisierung oder Ergänzung durch die Einfügung „und den, der Gewalttat liebt“ wirkt wie ein Zwischenruf, wie ein Kommentar, eine Erläuterung in später Zeit, als es nicht mehr um formale Kriterien ging (Singbarkeit und/oder Schönheit), sondern um inhaltliche Akzente: Wer Gottlos ist, der ist wie einer der Gewalttat liebt, Gottes Seele hasst beide.

Wer hat diesen Psalm so verbessert?

Wer war der Zwischenrufer? Nun, das wird man in diesem Leben mit Name und Adresse nicht mehr herausfinden, aber wenn man die Bibel aufmerksam von vorne an durchliest, kann man zumindest eines vermuten: es muss ein gewissenhafter Leser, eine Leserin der Tora gewesen sein. Denn dort, in der Tora, an ihrem Beginn, im Buche „Anfanges“[8] findet sich eine sehr ähnliche Einschätzung in Bezug auf das emotionale Verhältnis Gottes zur Gewalttat. Im sechsten Kapitel der Bibel, Gen 6, ist zu lesen, dass die Erde in den Augen Gottes verdorben war, weil sie voller Gewalttat ist (vgl. Gen 6,11). Und dann heißt es: „Ich sehe, das Ende aller Wesen aus Fleisch ist gekommen; denn durch sie ist die Erde voller Gewalttat.“ (Gen 6,13a). Nur „die Bibel begründet den Rückfall der Schöpfung ins Chaos mit der geschöpflichen Gewalttätigkeit. Nur ihr geht dieser Zusammenhang auf“, so das Hirtenwort „Gerechter Friede“.[9] Die Sintfluterzählung, die mit dieser Aussage eingeleitet wird ist ein dramatischer, brutaler Mythos von einem Gott, der die Gewalt hasst und doch nur mit Gewalt auf Gewalt zu reagieren weiß. Ein kindlicher Exeget brachte es auf den Punkt: „Da hat der liebe Gott einmal einen Wutanfall gehabt.“[10] Aus der Wut und Verzweifelung über menschliche Gewalttat verfällt Gott noch einmal dem Mythos erlösender Gewalt. Aber dieser Gott der Sintfluterzählung erkennt seinen Fehler: „Ich werde den Erdboden wegen des Menschen nie mehr verfluchen; denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an. Ich werde niemals wieder alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe.“ (Gen 8,21). In der Sintflutgeschichte wird Gott als Lernender dargestellt, der etwas verstanden hat von der Unmöglichkeit mit Gewalt gegen Gewalt vorzugehen. Dafür steht nicht zuletzt der Bogen in den Wolken (Gen 9,13-17), der ein Kriegsbogen ist: Gott hat seinen göttlichen Kriegsbogen endgültig aus der Hand gelegt. Es müssen diese dramatischen erzählerischen Zusammenhänge gewesen sein, die dem Zwischenrufer (oder der Zwischenruferin?) vor Augen standen, als er in Psalm 11 das schöne Gleichmass der beiden Vershälften aufsprengte: Die Seele Gottes, seine Lebendigkeit, haßt nicht nur den Frevler, nein sie haßt alle diejenigen, die ihre Liebe auf die Gewalt richten. Das musste einmal so drastisch gesagt werden[11], unbedingt noch zu Beginn des Psalters, eben gerade hier in Psalm 11,5 bot sich die Möglichkeit dazu.

Die Frage, die bleibt, ist natürlich, ob dieser Zwischenrufer sich nur hier in Psalm 11 eingemischt und unseren, heutigen Psalter geprägt hat. Die Entdeckung eines Zwischenrufs in einem Psalm wird so zur Einladung alle Psalmen neugierig neu zu lesen…!

Die Entdeckung eines solchen Zwischenrufs in einem Psalm zeigt zudem, was der Psalter heute sein will, nicht mehr das Liederbuch des alten Israel, sondern das Gebet- und Meditationsbuch des Toralesers, der Toraleserin.

Thomas Nauerth, im November 2021


[1] Hier dürfte der einzige Fall vorliegen, wo eine Übersetzung sofort unstrittig erscheint, sobald das hebräische Wort genannt wird: “In Hebrew, this word is chamas, believe it or not, so strikingly similar to the name of the Palestinian terrorist organization, Hamas“, so liest man es unter https://www.bibletools.org.

[2] Ein interessantes Internetprojekt in dieser Hinsicht scheint https://offene-bibel.de/drupal/startseite zu werden; vgl. nur https://offene-bibel.de/wiki/Psalm_11 !

[3] Ähnlich auch die Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache“, möglicherweise steht hier im Hintergrund auch die griechische Übersetzung der LXX (https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/septuaginta-lxx/lesen-im-bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/19/100001/109999/ch/bdb65574a588319f8d0ed699199ee0d5/)

[4] Die Revision Luther 2017 unterscheidet sich insofern deutlich von Luther 1984, wo es in Zürcher Tradition hieß: „Der HERR prüft den Gerechten und den Gottlosen; /wer Unrecht liebt, den haßt seine Seele.“

[5] Münsterschwarzacher Psalter. Die Psalmen, Münsterschwarzach 22003.

[6] Online u.a. zu finden unter https://www.bibel-online.net/.

[7] Warum Luther das hebr. Wort für Gewalttat chamas an manchen Stellen als „Frevel“ verundeutlicht, wäre eine eigene Untersuchung wert! Es könnte mit seinem Gewalt- und Staatsverständnis durchaus zu tun haben.

[8] Diese geniale Verdeutschung des ersten Wortes der Tora geht auf Franz Rosenzweig zurück.

[9] Sekretariat der Deutschen Bischöfe (Hg.), Gerechter Friede, Bonn 27.9.2000, Nr. 18.

[10] Vgl. Bucher, Anton A., „Da hat der liebe Gott einen Wutanfall gehabt“ – Gewalttexte in der Bibel: Zwischen Faszination und Trauma. In: Bucher A. u.a. (Hg.), „Im Himmelreich ist keiner sauer“. Kinder als Exegeten (Jahrbuch für Kindertheologie 2) Stuttgart 2003, 64-74.

[11] Sicherlich auch im Hinblick auf das richtige Verstehen der berüchtigten Fluch- und Rachepsalmen!