Thomas Nauerth
Es ist eine wahrlich utopische Geschichte, diese Geschichte von Elisa in 2 Könige 6,8-23, ein Verwandlungsmärchen, so hat es ein Ausleger einmal genannt: Sehende werden geblendet, Blinde werden sehend und der Feind wird zum Fest geladen und zieht danach friedlich von dannen. Eine Utopie, das heißt, so war es nie, leider, aber, so könnte, so sollte es immer sein. Auch heute.
Friedensgeschichten als Widerspruch
Die katholischen Bischöfe haben im Jahr 2000 in ihrem Hirtenwort „Gerechter Friede“ den schönen Satz formuliert, sag mir, welche Menschen Du verehrst und ich sage Dir, wie weit der nächste Krieg ist. Genauso wahr wie dieser Satz ist aber auch der Satz, sag mir welche Geschichten du kennst und liebst und ich sage Dir, wie weit der nächste Krieg entfernt ist. Dieser Satz betrifft gerade unsere biblische Bildung. Jeder weiß von Kriegsgeschichten im Alten Testament, wer aber kennt die Friedensgeschichten? Kriegsgeschichten im Alten Testament sind zudem nichts Besonderes, nichts, worüber man sich wundern muss. Die Menschen des alten Israels lebten in patriarchaler und kriegerischer orientalischer Welt und übernahmen ganz selbstverständlich die damals vorhandenen Üblichkeiten und Weltsichten, dachten vom Gott Israels in den gewalttätigen Kategorien der Götter der Völker. Nichts besonderes, solches Mitschwimmen in den üblichen Standards, auch uns ergeht es häufig so, wir übernehmen und leben die gesellschaftlich üblichen Standards.
Sehr besonders ist es dagegen immer, wenn man auf Geschichten trifft, die den Standards widersprechen, Geschichten, die das Übliche auf den Kopf stellen, in denen eine Ahnung aufblitzt, dass der Gott Israels gerade nicht ist, wie die Götter der Völker, sondern ganz andere Perspektiven eröffnet und fordert, gerade auch im Bereich von Krieg und Frieden. Die Geschichte, die wir eben gehört haben, ist eine solche Geschichte. Sie steht inmitten üblicher Kriegserzählungen. Sie muss wohl von ganz oben mitten in diese Kriegsgeschichten hineingefallen sein. Eine Geschichte als Widerspruch und Gegenrede. Sie muss auch zu den Geschichten gehört haben, von denen später ein Rabbi in Galiläa gelernt hat, anders kann ich mir seine Bergpredigt jedenfalls nicht erklären. Vielleicht sollte man nicht nur in der Theologie stärker danach fragen, was Jesus gelesen hat, als sich textarchäologisch abzumühen an der Frage, was hat er denn nun wirklich genau gesagt. Also hören wir hin auf diese Geschichte, die Jesus gekannt und geliebt haben wird.
Pazifistische Politikberatung
Worum geht es? Zunächst wird erzählt vom König von Aram, der Krieg führen will gegen Israel. Aram war ein Königreich um Damaskus, mit Israel ist das Nordreich gemeint, mit der Hauptstadt Samaria. Aber die Namen, die historischen Details sind nicht wichtig, die Könige haben bezeichnenderweise in dieser kleinen Geschichte auch keine Namen, es geht hier um Grundsätzliches: Könige, also die Herrscher der Völker, führen gerne Kriege, wir kennen das bis heute zur Genüge.
Dieser König von Aram machte also einen Kriegsplan. Aber er hat einen Gegenspieler. „Mann Gottes“ wird er genannt, erst später erfahren wir, es ist Elisa oder Elischa, der Prophet. Dieser Mann Gottes verrät den Kriegsplan des Königs von Aram, er warnt den König von Israel: „Hüte Dich.“ Der König von Israel hütet sich, der Krieg fällt aus. Ein Musterbeispiel pazifistischer Politikberatung: „Hüte Dich.“ Es geht in dieser Geschichte nicht darum, wer welches Recht hat, und wer im Unrecht ist. Der König von Israel hatte sicherlich alles Recht „an jenem Ort vorbeizuziehen“. Er tut es aber nicht. Er hütet sich. Oberstes Ziel dieses Gottesmanns scheint zu sein: kein Kampf, kein Krieg, kein Morden.
Ich frage mich, wer heute eigentlich solch ein „Hüte Dich“ aussprechen könnte und sollte. Und ich frage mich, was wäre gewesen, wenn es früh gesprochen und gehört worden wäre? In Bezug auf die Ukraine hätte es vieles gegeben, wo ein frühes „Hüte Dich“ segensreich gewesen wäre. Schon ganz zu Beginn dieser kleinen Erzählung kann man also nachdenklich werden, sollten nicht auch wir immer und immer wieder unsere Könige mahnen: Hütet euch, hütet Euch in Krieg zu geraten, welch Rechte ihr auch immer zu haben meint!
Von guten Mächten wunderbar geborgen
Die Geschichte nimmt nun ihren Lauf, einen Lauf, den wir kennen und erwartet haben: „Da wurde das Herz des Königs von Aram über diese Sache sehr beunruhigt“ Ach, so sind sie die Herzen der Mächtigen, wenn einer ihre Macht und ihr Gewaltspiel stört. »Bei euch aber soll es nicht so sein«, wird später ein Rabbi aus Galiläa sagen. Der betrübte König von Aram will dem Mann Gottes an den Kragen: »Ich werde hinsenden und ihn holen.« Wer die Gewalt verrät, und wer Gewalt vereitelt, dem droht Gewalt. „Da sandte er Pferde und Kriegswagen dorthin und ein starkes Heer“. Biblische Erzählungen haben oft mehr grimmigen Humor als wir ahnen. Um einen Gottesmann zu fangen, bedarf es einer halben Armee — und die kommt vorsichtshalber auch noch bei Nacht. Der Erzähler macht sich hier ein bisschen lustig über die Angst der Kinder dieser Welt vor der Macht des Heiligen. Was aber empfindet man, wenn man morgens sein kleines Dorf von Militär umlagert sieht? Nun für solche Empfindungen ist der »Diener des Mannes Gottes« zuständig, das israelitische Durchschnitts-Ich. Er steht früh auf, den Tag und das Frühstück vorbereitend, und er erschrickt, als er das Militär sieht: »Ach, mein Herr was sollen wir tun ?« Es ist schön, dass in dieser Erzählung auch an uns gedacht wird, an unsere Angst und Ratlosigkeit vor der Gewalt. Es ist noch schöner, dass der Gottesmann sehr liebevoll mit des Dieners und mit unserer Angst umzugehen weiß: „Fürchte dich nicht! Denn zahlreicher sind die, die bei uns sind, als die, die bei ihnen sind.“ Und dann betet der Gottesmann und Gott erhört sein Gebet, dem Ängstlichen, uns, werden die Augen geöffnet und wir sehen, und „siehe da: der Berg war voll von feurigen Pferden und Kriegswagen um Elisa herum.“ Oder, wie es in Berlin im Gefängnis ein Theologe später formulieren wird: Von guten Mächten wunderbar geborgen!
Die verführerische Listigkeit der Gewaltfreiheit
Doch nicht diese himmlischen Heerscharen, die wir später in der Weihnachtserzählung des Lukas wieder treffen werden, nicht diese göttliche Streitmacht rettet, die „feurigen Pferde und Kriegswagen« ziehen nicht etwa in den Krieg gegen das Militär, das die Stadt umstellt hat. Ihre Funktion besteht nur in der Tröstung und in der Ermutigung zum Handeln. Dieses Handeln beginnt mit einem weiteren Gebet, aber der Prophet betet nicht „Befreie uns aus der Not«, sondern er betet um das Gelingen einer kühnen, verwegenen Tat. Er betet, als ob es nicht aufs Handeln ankäme und er handelt, als ob es nicht aufs Beten ankäme. Die Soldaten führt er mit List in eine Falle, wissend, dass Soldaten bis heute eher mit Verrat rechnen, als mit Furchtlosigkeit. Gewaltlos handeln heißt nicht still betend (und bebend) abwarten, was der Gewalttäter tut. Gewaltlos handeln heißt, mutig, listig und phantasievoll dem Gewalttäter die Initiative abnehmen.
Das verführte feindliche Militär sitzt alsbald in der Hauptstadt Israels in der Falle, und der König von Israel, als er sieht, wer da mitten in seiner Hauptstadt und mitten unter seinen Soldaten sich eingefunden hat, ist kaum zu halten: »Soll ich losschlagen soll ich losschlagen?« Aber, dieser König ist ein guter König, er fragt, bevor er schlägt, und er nennt den Mann Gottes »seinen Vater«. Dies ist der Punkt, wo die Geschichte utopisch wird. Wann je hat ein König auf einen Propheten gehört, wann je hat ein Herrscher einen Mann Gottes als „seinen Vater“ angesehen? Die Geschichte erlaubt sich an diesen dramatischen Punkt der Erzählung mal wieder etwas speziellen Humor: Brot und Wasser fordert der asketische Prophet für die feindlichen Soldaten, der König aber, der von Askese nichts versteht, „richtete ein großes Festmahl für sie aus.“ Wie Martin Luther King es später formulierte: Eine gewaltfreie Haltung bemüht sich um Freundschaft und Verständnis. Und dann folgt der Schlusssatz: „Und die Streifscharen Arams kamen fortan nicht mehr in das Land Israel.“
Der Feind als Mensch wie wir
Die Erzählung geht also davon aus, dass auch die Soldaten Arams Menschen sind, dass ihre Feindschaft aufgebrochen werden kann, dass sie als Menschen angesprochen werden können, und dass sie dann menschlich reagieren. Der Erzähler dieser Prophetengeschichte widerspricht jeder These von dauerhafter Friedensunfähigkeit des Menschen deutlich. Die historische Tatsache, dass Aram und Israel immer wieder in Kriege verwickelt waren, beweist nicht, dass der Erzähler damit Unrecht hat. Denn die Möglichkeiten, gewaltfrei Feindschaften für immer aufzulösen, für die 2 Kön 6,8-23 wirbt, müssen auch gewagt werden. Die damalige Politik Israels war — in schrecklicher Parallele zu heute —dazu nicht in der Lage. »Wenn deinen Feind hungert, so speise ihn, dürstet ihn, so gib ihm zu trinken: so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln, und der Herr wird dir vergelten«, so heißt es im Buch der Sprüche 25,21+22. In 2 Kön 6,8-23 lesen wir, nein, erleben wir diese weisheitliche Regel in narrativer Entfaltung, subversiv von listiger Hand in die Elisaerzählungen eingeschmuggelt — und nun mit der Autorität des Propheten Elisa ummantelt.
Für uns Christen sollte aber noch mehr Autorität ein gewisser Paulus haben, der in Röm 12,20 die Weisheit aus dem Buch der Sprüche zitiert und uns auffordert: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Wir brauchen für diese unsere christliche Aufgabe der Überwindung des Bösen Beispielgeschichten. 2 Kön 6,8-23 ist solch eine Geschichte. Solche Geschichten bilden uns, trösten uns, fordern uns heraus: Der Mensch ist nicht wesensmäßig böse, nicht grundsätzlich verdorben, er ist ansprechbar, er kann erreicht werden, er hat ein Gewissen. Er kann umkehren, auch die „Streifscharen“ Arams können umkehren.
Auch heute noch.
(Kanzelansprache Hochschulgottesdienst Osnabrück im Mai 2023)