Sollte selbst die heilige Schrift Vorurteile haben? Nun, zumindest die Menschen, die uns in der heiligen Schrift begegnen, waren in der Regel nicht ganz durchgehend heilige Menschen. Sie hatten ihre damaligen kulturellen, also Zeit, landes- bzw. ortstypischen Vorurteile. „Aus Nazareth? Kann von dort etwas Gutes kommen?“ (Joh 1,46) So klingt auch in Hohelied 1,5, wenn man den Satz so übersetzt, wie in der Einheitsübersetzung, noch recht deutlich an, dass hier gegen etwas gesprochen wird, gegen ein Vorurteil schwarzen Menschen gegenüber: „Schwarz bin ich, doch schön.“ Ein großes Wunder der Bibel, immer wieder zu finden, und doch oft schwer zu bemerken, ist die schlichte Tatsache, dass solche Positionen, Positionen von Minderheiten, die sich gegen herrschende Vorurteile stellen, in diesem Buch laut werden, hier ihre Stimme, ihre bleibende Stimme und damit ihr bleibendes Recht erhalten – gegen alle kulturelle Geläufigkeit. Das ist wahrlich nicht wenig. Normalerweise bekommen Minderheiten in den offiziellen heiligen Schriften ihrer Gesellschaft kaum je Stimmrecht. Die Bibel ist da anders. Wer aber bekommt nun genau Stimmrecht in diesem Buch? Wer spricht da eigentlich in diesen Liebesliedern? Eine erste interessante Beobachtung: es ist eine Frau, die hier Stimmrecht bekommt. Denn eine Frauenstimme spricht und singt von ihrem Geliebten ─ und von ihrer Liebe: „O, dass er mich tränkte mit Küssen seines Mundes / deine Liebe ist süsser als Wein / der Duft deiner Salben ist süss“ (Hld 1,2.3a) Die neugierige Frage drängt sich auf, welche Frau hören wir hier? Nicht nur das Adjektiv „schwarz“ ist für die Beantwortung dieser Frage wichtig, sondern vor allem die Besonderheit, dass diese Frau sich an die Töchter Jerusalems wendet, sich von diesen Töchtern abgrenzt: „Schwarz bin, doch schön, ihr Töchter Jerusalems!“
Welche Frau könnte in so einem Gegensatz zu Töchtern Jerusalems stehen? Auf diese neugierige Frage gibt es möglicherweise tatsächlich eine sehr konkrete Antwort, zumindest, wenn man das Hohelied im Gesamt der heutigen Bibel liest. Immer schon ist aufgefallen, dass von König Salomo an nicht wenigen Stellen im Hohelied die Rede ist, es beginnt ja gleich mit der Überschrift Hld 1,1, in der der Name Salomo fällt. Die Übersetzung von Hld 1,1 ist schwierig, es geht wohl um „Zueignung an Salomo, der hier als Empfänger der (…) Komposition gekennzeichnet werde“ (Frank Crüsemann) . Man hat diese Salomobezüge und Anspielungen in der Regel aber nicht ernst genommen, sondern als literarisches Stilmittel („Königstravestie“) angesehen. Wenn man sie dagegen ernst nimmt, dann muss man fast zwangsläufig an die Notiz über Salomos fremde Frau aus Ägypten denken: „Salomo verschwägerte sich mit dem Pharao, dem König von Ägypten. Er nahm eine Tochter des Pharao zur Frau und brachte sie in die Davidstadt, bis er sein Haus, das Haus des HERRN und die Mauern rings um Jerusalem vollendet hatte.“ (1 Kön 3,1).
Wenn Salomo eine ägyptische Prinzessin zur Frau hatte, könnte es nicht sein, dass wir hier im Hohelied ihre Stimme hören? „In der Eröffnungsszene des Hohelieds hören wir die Stimme einer Frau, die sich nach der liebenden Begegnung mit einem König sehnt.“ (Ludger Schwienhorst-Schönberger) Bereits in der Eröffnung heißt es: „Der König führt mich in seine Gemächer. Jauchzen lasst uns, deiner uns freuen, / deine Liebe höher rühmen als Wein. / Dich liebt man zu Recht.“ (Hld 1,4). Auch die Abgrenzung von den „Töchtern Jerusalems“ würde sich auf diese Weise ganz natürlich erklären.
Eine ägyptische Prinzessin als entscheidende Protagonistin des Hohelieds, das würde auch gut zum literarischen Profil der Frau passen, deren Stimme wir in diesen Liedern immer wieder vernehmen. Sehr treffend wird sie umschrieben als eine „selbstbewusste Geliebte, die ihrem Freund geistreich und erotisch, neckend und herausfordernd begegnet (…) dieser Schulammit sind Stil und Strukturen poetischer Sprache nicht fremd: Sie wechselt spielerisch zwischen unterschiedlichen Tonlagen, wendet Gleichnisse und Metaphern erhellend und verdunkelnd an, weiß Parallelismen, Assonanz, Reim und Alliteration, Wiederholung, Wortspiel und Doppeldeutigkeit kunstvoll einzusetzen.“ (Efrat Gal-Ed)
Eine hochgebildete ägyptische Prinzessin wäre in der Tat eine solche ‘selbstbewusste und geistreiche Geliebte`, zugleich würde damit aber auch das Hohelied zu einem spannenden, dramatischen theopolitischen Statement. Denn die Heirat des Salomo mit einer ägyptischen Prinzessin, einer fremden Frau also, wird nicht immer so neutral erzählt wie in 1 Kön 3. In 1 Kön 11 heißt es: „König Salomo liebte neben der Tochter des Pharao noch viele andere ausländische Frauen: Moabiterinnen, Ammoniterinnen, Edomiterinnen, Sidonierinnen, Hetiterinnen. Es waren Frauen aus den Völkern, von denen der HERR den Israeliten gesagt hatte: Ihr dürft nicht zu ihnen gehen und sie dürfen nicht zu euch kommen; denn sie würden euer Herz ihren Göttern zuwenden.“ (1 Kön 11,1-2) Die Liebe zu fremden Frauen als Sünde des Königs: die Autoren, Redaktoren des Königsbuches (es werden Theologen gewesen sein, vor allem aber werden es Männer gewesen sein!) haben ganz massive Vorurteile gegen jegliche Frauen fremder Herkunft, fremder Religion und fremder Hautfarbe. Auch einem König gegenüber kennen sie in ihren Vorurteilen keine Rücksicht, fühlen sie sich in ihren Vorurteilen doch durch die Heilige Schrift, durch Gott selbst bestärkt. Genau das also, was in 1 Kön 11 aus religiösen Gründen verurteilt wird, die Liebe zwischen König und fremder Frau, wird im Hohen Lied gefeiert. Das Hohelied wäre so gelesen unmittelbarer Widerspruch zum religiösen Urteil der Redaktoren durch genau die Personen, die dort Anlass der religiösen Kritik sind. Eine Frau, und dann auch noch eine solche Frau, erhebt in der Heiligen Schrift ihre Stimme und widerspricht. Man kann sich schwer vorstellen, wie skandalös das einmal gewesen sein muss. Eine Ahnung bekommt man davon erst, wenn man im Nehemiabuch liest wie unter ausdrücklichem Verweis auf Salomos Sünde, nämlich die Liebe zur ägyptischen Prinzessin realpolitisch gehandelt wurde:
„Damals sah ich auch Juden, die Frauen von Aschdod, Ammon und Moab geheiratet hatten. Die Hälfte ihrer Kinder redete in der Sprache von Aschdod oder in der Sprache eines der anderen Völker, konnten aber nicht mehr Jüdisch. Ich machte ihnen Vorwürfe und verfluchte sie. Einige von ihnen schlug ich und packte sie bei den Haaren. Ich beschwor sie bei Gott: Ihr dürft eure Töchter nicht ihren Söhnen geben noch ihre Töchter zu Frauen für eure Söhne oder für euch selbst nehmen. Hat sich nicht wegen solcher Frauen Salomo, der König Israels, versündigt? Unter den vielen Völkern gab es keinen König wie ihn. Er wurde von seinem Gott geliebt; darum hatte ihn Gott zum König über ganz Israel gemacht. Aber selbst ihn haben die fremden Frauen zur Sünde verführt. Und jetzt hört man von euch, dass ihr genau dieselbe Untat begeht und unserem Gott die Treue brecht, indem ihr fremde Frauen heiratet.“ (aus Neh 13)
Man muss solche hässlichen, brutalen fremden- und frauenfeindlichen Texte vor Augen haben, wenn man das Hohelied liest. Erst dann kann man sich richtig wundern und freuen über diesen poetischen Widerspruch gegen alle religiösen männlichen Ideologen der Abgrenzung und Reinheit. Das Hohelied ist ein Lied für das Recht auf Liebe über alle ethnischen Grenzen hinweg und ein Lied für die Schönheit über alle Hautfarben hinweg. Ein hohes Lied gegen tief sitzende hässliche Vorurteile. Und wenn man das Hohelied fertig gelesen hat, kann man gleich weiterblättern, auch das Buch Ruth ist heute vor dem Hintergrund dieser fremden und frauenfeindlichen Texte zu lesen. Erst dann versteht man, was es bedeutet, wenn am Ende des Buches Ruth erzählt wird, dass eine Moabiterin zur Ahnfrau des großen Königs David wird ……..!
Auszüge aus einem Vortrag „Schwarz bin ich, doch schön“ (Hld 1,5) ─ Vom Streit in der Bibel um die Fremden und das Fremde“ auf der Herbstkonferenz 2022 zum Thema „Vorurteile, Feindbilder und Rassismus als Herausforderung der Friedensarbeit“ von Church and Peace; DMFK, VB und MFB in Karlsruhe am 25.11.2022