Eine Erzählung, die jeder kennt. Erzählungen, die jeder kennt, liest keiner mehr genau.
Doch diese Erzählung, Lk 2, verdient es, genau gelesen zu werden. Denn dann erst fällt auf, mit welcher Kunst hier erzählt wird. Der Erzähler dieser Erzählung liebt beispielsweise den Wechsel der Perspektive. „Und sie gebar ihren erstgeborenen Sohn“, heißt es in Lk 2,7 und sofort danach versetzt uns der Erzähler auf das freie Feld, zu den Hirten. Dort werden wir Zeuge vom Auftritt eines Engels, ja der himmlischen Heerscharen. Der Engel spricht über das, was wir in Lk 2,7 erlebt haben, ein Neugeborenes werdet ihr finden, so sagt er den Hirten (Lk 2,12). Und der Engel deutet, was wir und die Hirten sehen. Das Neugeborene, gewickelt in einem Futtertrog, ist der „Retter, der Messias, der Herr in Davids Stadt.“ (Lk 2,11). Was wir darauf zu sagen haben, singt uns „eine Menge der himmlische Heerscharen“ vor: Herrlichkeit dem Gott in der Höhe und auf Erden Friede den Menschen seines, Gottes Wohlgefallens! (Lk. 2,14)
Erneut aber wechselt der Erzähler abrupt die Perspektive, eben noch Zeuge des Gesangs der himmlischen Heerscharen, sind wir nun Zeuge, wie die Hirten untereinander beraten, wie sie nach Bethlehem gehen, wie sie das Angekündigte tatsächlich vorfinden und wie sie die Botschaft des Engels weitergeben. „Und alle, die es hörten, wunderten sich über das, was ihnen von den Hirten gesagt wurde.“ (Lk 2,18) Auch wir wundern uns. Wir gleichen Maria, die all diese Worte bewahrte und in ihrem Herzen erwog (Lk 2,19). So wie Maria versuchen auch wir in unserem Herzen zu verstehen. Warum beispielsweise hat der Erzähler in Lk 2,7 ganz vergessen, zu erzählen, welchen Namen der erstgeborene Sohn denn trägt? Er hat es so eilig, uns auf das freie Feld zu den Hirten zu bringen, dass in Lk 2,7 nur von der Geburt die Rede ist. Maria wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe. Welchen Namen aber gab sie ihm? Wer wurde dort geboren? Nie sonst in der Bibel wird vergessen, zu erzählen, wie das Kind heißt, das geboren wird. Dabei nennt die Erzählung sonst gerne Namen. Gleich zu Beginn lesen wir vom Kaiser Augustus (Lk 2,1), und von seinem Statthalter Quirinius (Lk 2,2), dann lesen wir von Josef, von Galiläa, von Nazareth, von Judäa, von der Stadt Davids (Lk 2,4) und schließlich von Maria (Lk 2,5). Wie aber heißt das Kind?
Wahrlich, dem Leser und Hörer dieser Erzählung ergeht es wie Maria, er muss alle diese Beobachtungen und diese Fragen erst einmal in seinem Herzen erwägen oder, wie man Lk 2,19 auch übersetzen kann: zusammenfügen. Dann fällt ihm auf, dass die Erzählung nicht mit Lk 2,20 enden kann, dass nicht die Rückkehr der Hirten der Schluss der Erzählung ist, sondern das Ausrufen des Namens: „der von dem Engel genannt worden war, ehe er im Mutterleib empfangen wurde“ (Lk 2,21). Acht Tage später, als er beschnitten werden sollte, da wurde sein Name genannt, gerufen: Jesus. Erst jetzt ist klar: es ist so eingetroffen, wie es verheißen war. Halleluja. Der Name, mit dem der Sohn genannt, gerufen wird, ist ein besonderer Name, ein Name mit Bedeutung. Jesus, das heißt hebräisch Jeschua und meint, ER, JHWH – der Gott Israels – rettet. Rettung, davon war schon die Rede. Der Engel, dem wir begegnet sind auf dem Feld bei den Hirten, dieser Engel sagte: „Denn euch ist heute ein Retter geboren!“ (Lk 2,11) Seltsam, genau so lautet auch ein Titel, den sich der große Kaiser Augustus, von dem wir in Lk 2,1 hörten, zugelegt hatte. Er ließ sich feiern auf Münzen und auf Denkmälern als Retter, als Herrn der Welt, als Macher des römischen Friedens. Es war ein Friede, gestützt auf Gewalt. Die pax romana verhieß Frieden für alle Menschen seines, des Kaisers, Wohlgefallens. Wundersame Erzählung! Am Anfang wird der Name des Augustus genannt, am Ende der Name des wahren Retters, Jeschua, Jesus und in der Mitte erscheint ein Engel, der sich gut auskennt in der Verehrung des Kaisers Augustus; ein Engel, der die Titel, die Augustus in Selbstherrlichkeit sich hat geben lassen, nimmt, und sie einem Kind zuspricht.
Es ist, als ob uns der Erzähler etwas erzählen will über das, was auch uns wirklich rettet. Rettung kommt nicht vom Kaiser, nicht von der staatlichen Gewalt. Die Erzählung entlarvt den wahren Stellenwert kaiserlicher, politischer Herrschaft. Die weltliche Macht kann Menschen zwingen, sich auf den Weg zu machen (vgl. Lk 2,3), aber sie hat die Ereignisse auf den Wegen der Welt nicht in der Hand. Ein Kind wird geboren, ein Engel erscheint und die Verhältnisse kehren sich um. Es ist, als ob der Erzähler uns Mut machen will, uns als Gemeinde derjenigen, die diesem Kind folgen, die die Herrlichkeit Gott zusprechen und die den Frieden erwarten und leben. Ihm zur Ehre und zu seinem Wohlgefallen.
Thomas Nauerth
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Zu den Weihnachtserzählungen des Matthäus wie des Lukas und zur Liturgie des Weihnachtsfestes vgl. aktuell das Themenheft der Online Zeitschrift „transformatio“: „Weihnachten – Grenzen überschreiten“ (https://transformatio-journal.org/ojs/index.php/trans/issue/view/150)
„Der Friede auf Erden kann nicht dort erwartet werden, wo dem Menschen göttliche Ehre dargebracht wird, sondern wo der Gott in der Höhe zu Ehren kommt.“ (Walter Schmithals)
„Unsere Erzählung vibriert untergründig von der Spannung zwischen dem universalen Anspruch des römischen Herrschers, der die pax romana als pax Augustana auf die Macht der römischen Legionen gegründet hatte, und dem universalen Anspruch des jüdischen (…) Messias, der von einem römischen
Präfekten, Pontius Pilatus, ans Kreuz geschlagen worden war, nachdem er Gottes Herrschaft ausgerufen und die Gewaltlosigkeit gepredigt hatte.“ (Rudolf Pesch)
„Jesus selbst lud später mit seinem „Komm und sieh“ in die Nachfolge ein, und seine Gemeinde lebten zunächst im Bewusstsein, dass ihr verkündigendes Wort ein ihr Leben erklärendes, ihren Frieden, ihre Friedensbereitschaft, ihren Widerstand gegen die „politischen Theologie“ erklärendes Wort sein müsse und sein könne. Die Not der gegenwärtigen Christenheit besteht weithin darin, dass sie die Einladung „Komm und sieh“ guten Gewissens nicht mehr zu sprechen vermag, dass sie die Botschaft spiritualisiert
und deshalb das Weihnachtsevangelium als Droge braucht – oder als die Windel, die ihre Blöße verdecken soll.“ (Rudolf Pesch)
„Jesu Verkündigung des Gottesreiches, die auf eine Erneuerung des Gottesvolkes abzielte, könnte es entsprechen, dass wir uns erneuern: dass wir eine Vision alternativer Formen des Zusammenlebens
entwickeln, die unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus, aber in Widerstand zu ihm, aufrecht erhalten werden können.“ (R.A.Horsley)